»Ich glaube, wir müssen das hochkant nehmen«
»Pack vor allem die Bücherkisten nicht so voll, sonst kann man sie nicht tragen und der Boden kracht raus!«
Wohnen kann jeder. Umziehen dagegen will gelernt sein. Zu keinem anderen Thema meinen so viele Leute klugscheißen zu müssen. Bei uns im Ruhrgebiet sowieso. Da selbst wir Kreativtypen alle irgendwo einen im Stammbaum haben, der mal richtig hart gearbeitet hat, hält sich hartnäckig der Glaube, man müsse alles selbst machen. Zum Beispiel eben umziehen.
Sagen wir mal, Sie hocken nun seit zehn Jahren in der gleichen, vor sich hin gammelnden Studentenbude und stellen plötzlich fest, dass Sie in einen Lebensabschnitt eintreten, in dem Sie eine funktionierende Toilettenspülung, kalkfreie Rohre und korrekt verlegte elektrische Leitungen, die über dem Sicherheitsstandard russischer Atommeiler liegen, nicht mehr als Ausdruck langweiligen Spießertums ansehen. Vielleicht kommen Sie auch endlich zu der Erkenntnis, dass es durchaus unüblich ist, den Silberfischchen im Bad Namen wie Fridolin oder Horst zu geben. In Ihnen keimt der Wille zur Veränderung.
»Pack vor allem die Bücherkisten nicht so voll, sonst kann man sie nicht tragen und der Boden kracht raus!«
Alsdann studieren Sie die Wohnungsanzeigen: »1FH, Nähe Biggesee, zw. Attendorn u. Plettenberg, unverbb. ruh. Südhnglg, 140 am W/1., geh. Ausst., voll unterk., Grdst. 1359 qm v. p. zu verk.« Mal abgesehen davon, dass dieses Angebot Ihre finanziellen Möglichkeiten knapp übersteigt: Wer will schon zwischen Attendorn und Plettenberg auch nur tot überm Zaun hängen?
Sie bewegen sich wahrscheinlich mehr in diesen Regionen: »Geräumiges 12qm-Dachzimmer mit vier Schrägen an heterosexuellen NR mittl. Alters. WBS erf. An Donnerstagen Küchenmitbenutzung möglich. 700 KM. Kaution 12 MM.«
Irgendwann fangen Sie an, die Telefonnummern zu wählen, die hinter einigen dieser Top-Angebote abgedruckt sind. Nach dem zehnten Gespräch sind Sie zutiefst davon überzeugt, dass Sie ein nichtswürdiges, unwertes Geschöpf sind, ein Quälgeist, der unschuldigen, unter ihrem Immobilienbesitz schmerzhaft ächzenden Menschen freistehenden Wohnraum praktisch zum Nulltarif abschwatzen möchte, um eine saubere, helle, piekfein ausgestattete Luxuswohnung in einen schmierigen Treffpunkt für Fixer, Nutten, Schwule und Grüne zu verwandeln.
Zu einer dann doch vereinbarten Objektbesichtigung möchten Sie bitte je eine Harn- und Stuhlprobe mitbringen, eine HIV-Unbedenklichkeitsbescheinigung, ein polizeiliches Führungszeugnis, die Aufstellung all Ihrer Auslandsreisen seit Ihrem dritten Lebensjahr, die Lebensläufe Ihrer Familie und die Kontoauszüge der letzten acht Jahre. Da Sie die Spermaprobe dummerweise vergessen haben, werden Sie mit einem freundlichen Lächeln und dem neuesten Playboy aufs Klo geschickt.
»Pack vor allem die Bücherkisten nicht so voll, sonst kann man sie nicht tragen und der Boden kracht raus!«
Nachdem jedoch alle Hindernisse überwunden sind, kommt der nächste Schritt, das Packen. Diese Gelegenheit sollten Sie nutzen, sich von überflüssigem Ballast zu befreien, der sich in den letzten Jahren angesammelt hat. Noch bevor Sie Umzugskartons besorgen, sollten Sie Müllsäcke anschaffen, und zwar in großer Zahl. Werfen Sie so viel wie möglich weg! Hängen Sie Ihr Herz nicht an nutzlosen Kram, nur weil eine Verflossene ihn mal in der Hand gehabt hat. Wenn Sie die vierte Kiste in den dritten Stock geschleppt haben, werden Sie sich selbst für alles danken, was sie weggeworfen haben.
In dieser Phase werden Sie von allen möglichen Leuten mit guten Ratschlägen totgeschmissen, von denen einer in unerträglicher Redundanz mit dem Gestus der Letzten Wahrheit ausgeschwitzt wird: »Pack vor allem die Bücherkisten nicht so voll, sonst kann man sie nicht tragen und der Boden kracht raus!«
Von den elf Leuten, die Ihnen bereitwillig ihre Hilfe und ihre Kraftwagen zum Transport angeboten haben, erscheinen am Umzugstage höchtens zwei, die keinen Führerschein haben und überhaupt an den Händen verletzt sind. Unbedingt zu empfehlen ist die Anmietung eines Kleinlasters, da die Behauptung »Also, da paßt ne ganze Menge rein in meine Ente, und zur Not kann man ja das Handschuhfach umklappen!« stets, sagen wir mal, mit Vorsicht zu genießen ist.
Haben Sie dann doch einige alte Bekannte unter Androhung der Aufkündigung der Freundschaft dazu gebracht, Ihnen zu helfen, entfährt denen beim Anblick der vielen Kisten ganz sicher der Satz: »Hoffentlich hast du die Bücherkisten nicht so voll gepackt, sonst kann man die nämlich nicht tragen und der Boden kracht raus!«
Der Umzugstag beginnt für die Helfer prinzipiell mit einer Pause. Das haben Sie geahnt und deshalb Brötchen, Fleischwurst, Cola, Bier und Kaffee in ausreichender Menge bereitgestellt. Es stellt sich Brotzeitstimmung ein, wie nach einer erfolgreichen Bergwanderung. Dann sind alle erst mal fressmüde und brauchen dringend zwei bis drei Zigaretten, um wieder auf die Beine zu kommen. In der Zwischenzeit haben Sie allein die ersten zwölf Kisten nach unten geschafft. Zögernd legen Ihre Helfer nach. Im Verlaufe der nächsten Stunden werden Sie immer wieder Sätze zu hören bekommen wie: »Die Teppiche kannst du doch wohl drinlassen!«, oder »Vielleicht sollten wir es mal durchs Fenster probieren ...«, vor allem aber: »Ist noch Bier da?«
Richtig besorgniserregend und problematisch wird es jedoch erst, wenn der eine, schlimme Satz fällt, die Sentenz, die schon eine Zeit lang unausgesprochen über der ganzen Unternehmung geschwebt hat und die, sobald sie die Zungenspitze des Sprechenden verlassen hat, die Gesichter aller Anwesenden mit einem dunklen Verzweiflungsschleier überziehen wird, die Sentenz nämlich: »Ich glaube, wir müssen das hochkant nehmen!«
Dieser Ausspruch markiert den Punkt, an dem Sie sich wünschen, nie den Entschluss zum Wohnungswechsel gefasst zu haben, oder besser noch: niemals geboren worden zu sein. Es geht dann meist darum, etwas durch eine oder mehrere Türen zu bugsieren, die so schmal oder so verzwickt über Eck gebaut sind, dass der Transport von Stückgütern größer als ein Eierbecher einem Suizidversuch gleichkommt. Ebenso sicher wie der Umstand, dass es unmöglich ist, das betreffende Möbelstück an den vorgesehenen Ort zu platzieren, ist das Wunder, dass es doch funktionieren wird. Wie das vonstatten gegangen ist, wird nicht mehr zu klären sein, höchstwahrscheinlich aber verfügt einer Ihrer Helfer über parapsychologische Fähigkeiten, mit denen er die Gesetze der Raumzeit kurzfristig außer Kraft setzt. Merken Sie sich vor allem eins: Protestieren Sie nicht und fragen Sie nicht, wie das klappen konnte. Schweigen Sie und dulden Sie!
Und am Ende eines langen, entbehrungsreichen Tages hocken Sie in der neuen Behausung, um Sie herum leere Bierflaschen, der nagelneue Teppich schon versaut von den Resten des Nudelsalates, den Sie tonnenweise in die Helfer entladen durften.
Und wenn Sie ganz viel Glück haben, kommt genau dann einer der Umzugshelfer zu Ihnen, legt Ihnen eine Hand auf Ihre Schulter und sagt: »Weißt du, was ich besonders prima fand? Du hast die Bucherkisten nicht so vollgepackt, die konnte man prima tragen und der Boden ist auch nicht herausgekracht!«